Das menschliche Antlitz Jesu
Welches Antlitz zeigt der Volto Santo? Man nimmt bisher vielfach an, dass der Volto Santo von Manoppello das lebende Gesicht Jesu mit offenen Augen und offenem Mund, also das „Antlitz des Auferstandenen“ zeigt, während das Grabtuch von Turin den „Leichnam Jesu“ mit Blutflecken und Ablichtungen seiner Wunden am ganzen Körper zeigt. Stimmt dies? Richtig ist, dass die meisten Ikonen und Christusbilder, die den Erhöhten und Auferstandenen darstellen, seit ca. 550 nach dem Vorbild des Volto Santo gemalt wurden.
Volto Santo von Manoppello
Er diente im Mittelalter aber auch als Vorbild für Gemälde vom Schweißtuch der Veronika, also für das leidende Antlitz Jesu auf dem Kreuzweg, nachdem man beide Tuchbilder miteinander verwechselt bzw. identifiziert hatte. Ikonographisch lässt sich die obige Frage demnach nicht beantworten. Viel entscheidender für diese Frage ist die Tatsache, dass alle Menschen, denen der Auferstandene erschienen ist, ihn nicht am Aussehen erkannten, wie die biblischen Zeugnisse berichten. Maria Magdalena erkannte ihn an der Stimme (Joh 20, 11ff), die Emmausjünger am Brotbrechen (Lk 24, 13ff), die Apostel meinten, es sei ein Geist, als er durch verschlossene Türen im Abendmahlsaal erschien (Lk 24, 36ff), und Thomas forderte als Identifikationsbeweis, seine Nagelwunden zu sehen (Joh 20, 24ff). Das Aussehen des Auferstandenen war offenbar immer anders.
Viel wahrscheinlicher erscheint deshalb die Annahme, dass der Volto Santo zunächst „das menschliche Antlitz Jesu“ als Positivbild zeigt, während auf dem Grabtuch von Turin dasselbe Antlitz im Fotonegativ abgelichtet wurde, wie man im Jahre 1898 erstmals festegestellt hatte. Jesus hat uns demnach im dunklen Grab auf beiden Grabtüchern „sein menschliches Antlitz“ hinterlassen. Nur so ist es erklärbar, dass die Gesichter auf beiden einzigartigen und wunderbaren Tuchbildern deckungsgleich sind. Beide sind so authentische Zeugnisse über Leiden, Tod und Auferstehung Jesu, weil auch auf dem Volto Santo Blut und Wunden abgelichtet sind. Wer den Volto Santo aber mit den Augen des Glaubens (mit dem Herzen) betrachtet, sieht im Volto auch den Auferstandenen. Wie soll man das verstehen? Sr. Blandina Schlömer schreibt dazu: „Für mich ist der Schleier eine Gegenwart des auferstandenen Herrn, der in seinem Antlitz die Spuren des Todes und der Passion für uns sichtbar erhalten hat. Seine Herrlichkeit sieht man nur im Glauben und in der Liebe…. Den `göttlichen Glanz` auf dem Antlitz Christi sieht man nur im Heiligen Geist. Jesus Christus ist der Lebendige`, so offenbart Er sich“ (s. Email vom 28. 12. 2011).
Demnach hängt die Antwort auf die obige Frage davon ab, wie man den Volto Santo betrachtet, mit den irdischen Augen oder mit den Augen des Herzens (Glaubens). Ein Beispiel! Ob ich über eine Blume sage: Dies ist eine „schöne Dekoration“ oder dies ist ein „Wunderwerk“ hängt von der Sichtweise ab. Es ist jedes Mal die gleiche Blume. Wenn ich sie als „schöne Dekoration“ bezeichne, betrachte ich sie mit ästhetischen Augen. Wenn ich sie als „Wunderwerk“ bezeichne, betrachte ich sie mit den Augen des Glaubens und sehe hinter ihr den unsichtbaren Schöpfer am Werk, der sich (seine Allmacht, Weisheit und Größe) wie ein Künstler in seinen Werken offenbart (vgl. Röm 1, 19). Die Blume bleibt aber sein Schöpfungswerk und zeigt nicht „das göttliche Antlitz des unsichtbaren Gottes“. In ähnlicher Weise zeigt Jesus „das menschliche Antlitz Gottes“ (Papst Benedikt). Er ist in seiner menschlichen Gestalt das „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1, 15), „der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens“ (Hebr. 1, 3). Die Menschen damals sahen in Jesus zunächst aber nur den „Sohn des Zimmermanns“, Maria und Josef und später auch die Apostel den „Sohn Gottes“ (.Mt 14, 33; 16, 18).
Sr. Blandina sagt deshalb ganz richtig: „Für mich ist der Schleier eine Gegenwart des auferstandenen Herrn,..“ und sagt nicht: Er zeigt „das Antlitz des Auferstandenen“. Sie möchte damit wohl sagen, dass sie in dem Volto Santo die Gegenwart des Auferstandenen sieht, so wie man in einer schönen Blume den Schöpfer am Werk sehen kann. So betrachten orthodoxe Gläubige auch die Ikonen und küssen sie zum Zeichen ihrer Liebe zu dem betr. Heiligen, obwohl die Ikonen nicht ihre himmlischen Gesichtszüge tragen. Sr. Blandina betont deshalb ausdrücklich: „Seine Herrlichkeit sieht man nur im Glauben und in der Liebe…. Den `göttlichen Glanz` auf dem Antlitz Christi sieht man nur im Heiligen Geist.“ Und sie sagt weiter, dass der Auferstandene „… in seinem (menschlichen) Antlitz die Spuren des Todes und der Passion für uns sichtbar erhalten hat“. D. h. wohl, dass der Volto Santo „das menschliche Antlitz Jesu“ zeigt und bildlich anschaulich macht, was die Evangelisten in ihren Passionsberichten bezeugen. Er ist mit dem Grabtuch von Turin zusammen der älteste, authentische, göttliche Bildbericht über Leiden, Tod und Auferstehung Jesu.
Wir müssen demnach die menschliche Sicht und die Sicht des Glaubens genau unterscheiden. Beide sind legitim und wichtig, weil Gott ja in Jesus ein „menschliches Gesicht“ annahm. Wie das Gesicht des Auferstandenen damals aussah, wissen wir nicht; offenbar immer anders, wie die Berichte von den Erscheinungen des Auferstandenen bezeugen. Aber bei der menschlichen Sicht dürfen wir nicht stehen bleiben. Die Sicht des Glaubens ist für uns wichtiger. Dass ich z. B. in einem Geschenk nicht nur einen brauchbaren Gegenstand sehe, sondern ein Zeichen der Liebe des Schenkenden, ist für den Wert des Geschenkes entscheidend wichtig. So ist es auch wichtig, dass man im Volto Santo nicht nur ein Bild, u. U. ein „göttliches Foto“ vom „menschlichen Antlitz Jesu“ sieht, sondern in ihm die „Gegenwart des Auferstandenen“ erkennt. Der Volto Santo ist so verstanden nicht nur ein Bild, sondern ein Medium, das Gemeinschaft mit dem Auferstandenen stiften kann und will. Er ist nicht nur das malerische Vorbild, sondern auch das geistliche Urbild aller Ikonen.
Um das Besagte nochmals an einem Beispiel zu verdeutlichen! Es verhält sich mit dem Volto Santo ähnlich wie mit der Bibel. Sie enthält zunächst „Schriften von Menschen“ und ist kein „Diktat von Gott“, wie der Islam vom Koran glaubt. Die „menschlichen Schriften“ in der Bibel sind aber für den Gläubigen „Wort Gottes“, weil er davon überzeugt ist, dass darin Gott zu uns spricht. Er glaubt, dass der Hl. Geist die Verfasser inspiriert hat und ihre menschlichen Worte hl. Schrift sind, obwohl sie dennoch ihre Menschlichkeit behalten haben. So heißt es: „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten. In dieser Endzeit hat er aber zu uns gesprochen durch seinen Sohn“ (Hebr. 1, 1f). Jesu „menschliche Worte“ sind am deutlichsten „Wort Gottes“. Denn in ihm ist Gottes Wort „Fleisch geworden“ (Joh 1, 14). In ähnlicher Weise zeigt der Volto Santo das „menschliche Antlitz Jesu“, obwohl wir in ihm mit den Augen des Glaubens (Herzens) die Gegenwart des Auferstandenen sehen dürfen. So wie er dem Apostel Thomas seine Wundmale zeigte und er daraufhin den Auferstandenen erkannte, so können auch wir in dem von seinem Leiden gekennzeichneten „menschlichen Antlitz“ auf dem Volto Santo auch den Auferstandenen erkennen und sagen: „Mein Herr und mein Gott“ ( Joh 20, 28).
Anmerkungen von Pfr. Josef Läufer
Foto: J. Läufer