Drei Illusionen zum wahren Bild Christi
Die westliche Christenheit, in so weit sie etwas von der Leidensgeschichte Christi begriffen hat, ist davon überzeugt, daß eine heilige Frau mit Namen Veronika aus Erbarmen mit dem sein Kreuz tragenden Christus ihm ein Schweißtuch gereicht hat, in dem er sein Antlitz im Abdruck hinterlassen hat.
Diese Legende gehört heute zum Selbstverständnis der lateinischen Christenheit, der katholischen und der evangelischen. Nur der Osten kennt eine andere Legende, die die Entstehung des wahren Christusbildes auf dem Tuche erklärt, nämlich die des Königs Abgar von Edessa, der das in ein Tuch abgedruckte Antlitz Jesu überbracht bekommen hat.
Der Vatikan hat immer noch nicht zu der Frage Stellung genommen, ob im Veronikapfeiler die echte Christusreliquie mit dem Antlitz des Herrn aufbewahrt wird oder nicht. Manch einer mag noch der Illusion anhängen, daß das dort aufbewahrte Tuch tatsächlich das der heiligen Veronika ist oder mit der von Dante genannten "Veronica" (= wahres Bildnis) identisch ist. Es darf nicht zugegeben werden, daß diese Reliquie in der Zeit zwischen 1601, als sie zum letzten Mal den Pilgern des Heiligen Jahres 1600 / 1601 gezeigt wurde, und 1616, als der Kaiserhof in Wien Papst Paul V. um eine Kopie der Veronica gebeten, der Papst aber keinen tüchtigen Veronikamaler gefunden hat, aus St. Peter verschwunden ist.
Die Leute von Manoppello aber wollen ungern Abschied nehmen von der von dem Kapuzinerpater Donato da Bomba gegen das Jahr 1640 in Form einer "relatione historica" formulierten Legende, die dem Leser nahelegt, daß ein Heiliger oder ein Engel vom Himmel her das Christusbild auf dem zarten Schleier nach Manoppello gebracht und einem ihrer Mitbürger schon im Jahre 1506 anvertraut habe.
Mit welchem Argument, das noch so gut wissenschaftlich fundiert sein mag, kann der Forscher gegen eine solche dreifache Illusion angehen? Hat er überhaupt das Recht, die in irgendeiner Form zur Identität der entsprechenden Gruppen gehörenden Irrtümer zu berichtigen? Will er diese ausräumen, huldigt er dann nicht der Idee einer abstrakten geschichtlichen Wahrheit, die doch für so viele Wissenschaftler zu einem Idol geworden ist, das zum lebendigen Gott in Konkurrenz tritt, wenn nicht gar von ihm wegführt? Die Wahrheit aber, die immer bleibt, ist einzig Gottes Sohn als Person, um dessen Bild es hier freilich geht, um sein wahres Bild, die "Veronica".
Nun geschieht es nicht zum ersten Mal, daß gerade Irrtümer große, grundlegende Ideen und Taten bewirkt haben. Wäre je die Gotik entstanden, hätte nicht Suger, der Abt von St. Denis, gemeint, daß der dort begrabene erste Bischof von Paris mit dem Schüler des Apostels Paulus in Athen identisch, und dieser wiederum identisch mit dem anonym gebliebenen Autor jener neuplatonischen Schriften identisch sei, der sich bis auf den heutigen Tag hinter dem Pseudonym Dionysius Areopagita versteckt? Hätte er je sonst den Versuch unternommen, die in diesen Schriften enthaltenen Ideen in Kunst und Architektur umzusetzen; ein Vorgang, der zur Entstehung der Gotik geführt hat? Hätte ein Franz Xaver gleich ganz Ostasien christianisieren wollen, wäre er nicht irrtümlicherweise davon überzeugt gewesen, daß alle nicht getauften Menschen vom Reich Gottes ausgeschlossen bleiben und verloren gehen? Sollen wir also bei den Irrtümern stehen bleiben? Dem heutigen Geschichtsschreiber obliegt die Aufgabe, den wesentlichen Kern herauszuarbeiten, wie die Wunder der gotischen Kathedralen nicht aus der Kunst des Mittelalters wegzudenken sind, wie wir heute staunend vor dem ungeheuren Elan des Missionswerkes des hl. Franz Xaver stehen, sind auch die wesentlichen Gehalte der drei oben genannten Illusionen festzuhalten.
Wer im christlichen Erbarmen sich den leidenden Menschen zuwendet, bekommt sicher das echte Antlitz Christi in Herz und Seele eingeprägt. So wurden jene Frauen, die sich mutig und klug mit Gaben aller Art in Gefängnisse und Konzentrationslager begeben haben, um heimlich den dort Inhaftierten zu helfen, mit Recht Veronikas genannt. Es ist wohl wichtig, daß die Hauptkirche der Christenheit St. Peter in Rom nicht der Aura seiner Reliquien beraubt wird und der damit verbundenen Gegenwart der heiligen Personen. Ebenso ist es von Bedeutung, daß die Einwohner von Manoppello das Schleierbild Christi dankbar als himmlisches Geschenk an sie erfahren. Wie aber kann jedes Mal der Wesenskern erhalten bleiben, wenn seine irrtümliche Einkleidung entfernt wird?
Die rigorose Wissenschaft versucht sich immer wieder diesem Ziele anzunähern. Für sie existiert keine Frau Veronika in der Geschichte, und das Stoffstück, ohne jedes Christusbild, das im Vatikan noch jedes Jahr im kostbaren Reliquiar der Zeit Urbans VIII. gezeigt wird, kann keineswegs mit der römischen Veronica, dem von den Pilgern verehrten Bild, identisch sein, schon deshalb, weil kein Christusantlitz auf diesem Stück Stoff zu sehen ist. Schließlich wird die relatione historica auf dem Dokument, das ihre öffentliche Verlesung im Rathaus von Manoppello im Jahre 1646 berichtet, ausdrücklich als Legende bezeichnet. Es ist die letzte Bildlegende, die bisher erfunden worden ist. Lassen wir nach diesem Intermezzo alle Illusionen auf der Seite und wenden uns wieder den Objekten selbst zu, deren Herstellungsart niemand zufriedenstellend erklären kann, zunächst den Schleier von Manoppello und im Vergleich zu ihm dem Fensterglasbild von Absam in Tirol.
Das hl. Antlitz von Manoppello und die Gottesmutter von Absam
Es gibt zwei Bilder, die sich dadurch auszeichnen, daß sie gegen den Himmel oder helles Licht gehalten, fast gänzlich oder ganz verschwinden: das Antlitz Christi auf dem überaus zarten und feinen Schleiergewebe in Manoppello und das Gesicht Mariens auf dem Stück Glasscheibe, auf dem es am 17. Januar 1797 in Absam erschienen und seitdem fest verhaftet geblieben ist. Die ganz feine, wie eine fotografische Beschichtung wirkende Bildstruktur verflüchtigt sich für den Blick des Betrachters ganz und gar, wenn die Scheibe nur gegen eine weiße Wand gehalten wird. Dieses Phänomen, das in abgeschwächter Form – wenigstens die Augen bleiben sichtbar – auch für Manoppello gilt, hat bisher noch niemand befriedigend nach seiner Ursache befragen können.
Es ist also etwas auf dem Glas vorhanden, was sich nur dann zeigt, wenn dieses gegen einen getönten Hintergrund gehalten wird. Dieses "etwas" kann nicht als irgend eine weitere Schicht auch noch so feiner materieller Dichte zu dem Glas hinzugekommen sein, denn alles, was materiell hinzugefügt wird, kann durch einen bloßen weißen Hintergrund für das Auge nicht ganz verschwinden. Man kann also das Phänomen des wunderbaren Glasbildes von Absam nur so beschreiben, daß die Glasmaterie in ihrer Oberfläche so geändert wurde, daß das Licht vor einem zu hellen Hintergrund so gebrochen wird, daß nichts mehr von irgendeiner Bildstruktur zu erkennen ist, und vor einem getönten so, daß ein Bild sich zeigt. Wie diese ganz feine Oberflächenänderung vorgenommen werden soll, ist bisher unbekannt geblieben.
Ähnliches gilt für das Gewebe mit dem Christusantlitz in Manoppello, nur daß die Bildstruktur nicht auf reine Graustufen begrenzt bleibt, sondern verschiedene Farben zwischen grau und feinem rosa über alle möglichen Brauntöne vor einem nur wenig abgeschatteten weißen Hintergrund zu erkennen gibt. Je nach Lichteinfall und Standpunkt des Betrachters erscheint das Antlitz bräunlich getönt, ohne weitere Farbstufen, oder es schimmern darüber hinaus das Hellrot der Lippen und der blutigen Wundspuren an den Schläfen auf. Bei bloßem, abgeschatteten Tageslicht, ohne jede künstliche Beleuchtung oder Sonnenbestrahlung, erscheint das ganze Bild in Graustufen wie das Antlitz Mariens in Absam auf der Scheibe. Das Ändern der farbigen Erscheinung eines Gegenstandes je nach Lichtstärke und Lichteinfall ist als ein Irisieren zu beschreiben. Gewöhnlich kommt so etwas bei keinem Kunstgebilde, sondern nur in der Natur selbst vor.
Beide Male, bei der Scheibe von Absam und bei dem Schleier von Manoppello, müssen wir und können wir feststellen, daß unser erster Eindruck täuscht. Wir meinen wohl, daß das Bild auf der Scheibe von Absam eingeätzt sei, oder daß es sich um ein Schwarz-weiß-Diapositiv handle. Dem ist aber nicht so. Ebenso meinen wird, daß der Schleier von Manoppello ein Gemälde sei, wie oft behauptet wird. Auch hier müssen wir bei näherem Zusehen unseren ersten Eindruck korrigieren. Ein Gemälde kann nie, unter keinerlei Bedingung, unsichtbar oder beinahe unsichtbar werden. Noch weniger verfügt es über irisierende Farbwirkungen. Beide Objekte werden unsere Lehrmeister, die uns sagen: viele Eurer Beobachtungen sind oberflächlich und falsch. Wir werden wohl etwas demütiger werden müssen vor Bildern wie denen in Absam und in Manoppello
P. Heinrich Pfeiffer SJ