Gedanken zu einem Gedicht von Michelangelo

Geschätzte Lesezeit ca. 3 Minuten

Beim Anblick der Pietà im Petersdom in Rom muß man unwillkürlich an die Sonette Michelangelos denken: "Veggio nel tuo bel viso, Signor mio..." das Rainer Maria Rilke ins Deutsche übertragen hat.

Ich weiß in deinem Antlitz zu gewahren,
was Ausdruck kaum in diesem Leben leidet.
Die Seele, mit dem Fleische noch bekleidet,
ist mehrmals schon damit zu Gott gefahren.

Zum Gnadenquell,
aus welchem alle stammen,
kommt jede Schönheit.

Nicht andere Früchte gibt es noch Beweise
des Himmels hier. Wer treu euch liebt,
der steigt zu Gott empor und macht den Tod sich leise.

Quelle: L’OSSERVATORE ROMANO, deutsche Ausgabe vom 4. 1. 2002, Seite 5.

Das Antlitz Christi im Schleier von Manoppello kann mit den Worten Michelangelos nicht vollständig erfaßt werden. Das unbeschreibliche Leid der Welt spiegelt sich wieder im geschundenen Antlitz Christi, und trotzdem ist die Erhabenheit des menschgewordenen Gottessohnes ungebrochen. Das Bild zeigt das Gesicht eines Lebenden. Es ist eine Momentaufnahme des menschlichen Leides, wie es bis heute in vielen Gesichtern die Menschheit begleitet.

Wir wissen nicht definitiv, ob das Abbild auf dem Volto Santo während des Kreuzwegs - wie in der Veronikalegende geschildert - entstanden ist oder ob das Abbild im Moment der Auferstehung sich auf einem Gesichtstuch entwickelte. Die erste Version wäre für uns leichter verständlich und nachvollziehbar - deshalb die Legende als Erklärungsversuch -, während die zweite Version für uns derzeit noch naturwissenschaftlich unfaßbar und somit nur glaubbar ist. Es bleibt für uns das Rätsel, und dies ist gut so. Auf diese Weiser haben wir breiten Raum für die Verehrung Gottes in der Betrachtung des Antlitzes von Manoppello.

Die großen Worte "Ich weiß in deinem Antlitz zu gewahren, was Ausdruck kaum in diesem Leben leidet." kann jeder Betrachter des Antlitzes Christi in Manoppello nachvollziehen.

Erst durch das Leiden Christi ist der Gnadenquell Gottes zu einem Gnadenstrom geworden. Hatte Gott bis zur Geburt Christi sechsmal seinen Bund mit den Menschen geschlossen bzw. erneuert - so mit Adam und Eva, Noah, Abraham, Mose, König David - und dabei sein Heil einer immer größer werdenden Menschenfamilie zugesagt, so findet im Opfertod Christi, der Ganzhingabe des Gottesohnes, der umfassendste Bund und der größte Gnadenerweis ssinen Höhepunkt. Es ist ein einmaliges Dokument für die Treue Gottes mit den Menschen, daß wir bis in die heutige Zeit hinein den Volto Santo von Manoppello und das Turiner Grabtuch geschenkt bekommen haben. Diese kostbarsten Reliquien auf dem Erdkreis erinnern uns wie auch die Eucharistie ständig an den erneuerten Bund Gottes, den er im Opfertod seines Sohnes gestiftet hat.

Br. Ansgar Ulrich Knop Obl. OSB

Drucken