Benedikt XVI: Das Antlitz Gottes spiegelt sich in der Würde jeder Person

Geschätzte Lesezeit ca. 9 Minuten

Predigt zum Gottesdienst am Neujahrstag ROM, 1. Januar 2010 (ZENIT.org).

Wir veröffentlichen die Predigt, die Benedikt XVI. beim Neujahrsgottesdienst zum Hochfest der Gottesmutter Maria gehalten hat.

Am ersten Tag des Jahres, an dem auch der Weltfriedenstag begangen wird, rief der Heilige Vater zu einem entschlossenen Friedenseinsatz auf, der mit dem Respekt vor der unveräußerlichen Würde jedes Menschen beginnen sollte.

* * *

Liebe Brüder und Schwestern!
Verehrte Brüder, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern!

Am ersten Tag des neuen Jahres haben wir die Freude und die Gnade, gleichzeitig die allerheiligste Muttergottes und den Weltfriedenstag zu feiern. Zu beiden Jahrestagen feiern wir Christus: Er ist der Sohn Gottes geboren von der Jungfrau Maria und unser wahrer Friede! Ihnen allen, die ihr hier zusammengekommen seid: Vertreter aus allen Völkern der Welt, der römischen Kirche und der Weltkirche, Priester und Gläubige; und allen, die über Radio und Fernsehen mit uns verbunden sind, wiederhole ich den alten Segensspruch: Der Herr wende dir sein Angesicht und schenke dir Heil (Nm 6,26). Es ist gerade das Thema des Antlitzes und der Gesichte, das ich heute im Licht des Wortes Gottes vertiefen möchte. Das Antlitz Gottes und die Gesichter der Menschen. Ein Schlüsselthema, um die Probleme des Friedens auf der Welt zu verstehen.
Wir haben sowohl in der ersten Lesung aus dem Buch Numeri und im Antwortpsalm einige Ausdrücke gehört, in der die Metapher des Gott zugewandten Anlitzes erwähnt wird: "Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig "(Nm 6,25); "Gott sei uns gnädig und segne uns. Er lasse über uns sein Angesicht leuchten, damit auf Erden sein Weg erkannt wird und unter allen Völkern sein Heil." (Ps 67, 2-3). Das Antlitz steht als Ausdruck schlechthin für die Person selbst; für das, was sie wiedererkennbar macht, das, worin sich die eigenen Gefühle, Gedanken, Herzensabsichten spiegeln.
Gott ist von seiner Natur her unsichtbar, und doch wendet die Bibel auch auf ihm dieses Bild an. Das er sein Antlitz zeigt, ist Ausdruck seines Wohlwollens; versteckt er es aber, drückt das Zorn und Geringschätzung aus. Das Buch Exodus erklärt: "Der Herr und Mose redeten miteinander Auge in Auge, wie Menschen miteinander reden" (Ex 33,11), und es ist Mose, dem der Herr seine Nähe für immer mit einer einzigartigen Ausdrucksweise verspricht: "Mein Angesicht wird mitgehen, bis ich dir Ruhe verschafft habe" (Ex 33,14). Die Psalmen präsentieren uns die Gläubigen als jene, die das Antlitz Gottes suchen (Ps 27,8; 105,4), die im Kult sich bemühen, es zu sehen (Ps 42,3), und sie sagen uns, dass diejenigen, die Rechtschaffenen "sein Angesicht schauen" dürfen (Ps 11,7).
Die gesamte biblische Erzählung lässt sich als ein fortschreitendes Enthüllen des göttlichen Antlitzes lesen, bis es schließlich seinen vollständige Offenbarung in Jesus Christus findet. "Als aber die Zeit erfüllt war", so erinnert uns auch heute der Apostel Paulus, "sandte Gott seinen Sohn" (Gal 4,4), und er fügt sogleich hinzu: "geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt". Das Antlitz Gottes hat das Aussehen eines Menschen angenommen, es ließ sich im Sohn der Jungfrau Maria anschauen und wiedererkennen. Deshalb verehren wir sie mit dem allerhöchsten Titel der "Muttergottes".
Sie, die im Herzen das Geheimnis der Mutterschaft Gottes bewahrte, war die Erste, die das Antlitz des Mensch gewordenen Gottes in der unscheinbaren Frucht ihres Leibes sah. Die Mutter hat eine ganz besondere, einzigartige und gleichsam ausschließliche Bindung zu ihrem neugeborenen Kind. Das erste Gesicht, das ein Kind sieht, ist das der Mutter, und dieser Anblick ist entscheidend für seine Verbindung zum Leben, zu den anderen, zu Gott; er ist auch entscheidend dafür, ob es ein "Kind des Friedens" (Lk 10,6) werden kann.
Unter den zahlreichen Typologien von Ikonen der Jungfrau Maria in der byzantinischen Tradition gibt es jene der "Gottesmutter der Zärtlichkeit"; sie zeigt das Jesuskind Wange an Wange mit der Mutter. Das Kind sieht die Mutter an, und diese sieht uns an, als wollte sie dem betenden Beobachter die Zärtlichkeit Gottes spiegeln, der vom Himmel in sie herabgestiegen und in jenem Menschensohn, den sie in Armen hält, Fleisch geworden ist.
In dieser Marienikone können wir etwas von Gott selbst betrachten: Ein Zeichen der unauslöschlichen Liebe, die ihn dazu brachte, "seinen einzigen Sohn hinzugeben" (Joh 3,16). Doch dieselbe Ikone zeigt uns in Maria auch das Antlitz der Kirche, die uns und der ganzen Welt das Licht Christi widerspiegelt. Jener Kirche in der die Frohe Botschaft jeden Menschen erreicht: "Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn" (Gal 4,7) – wie wir wiederum bei Paulus lesen.
Brüder im Bischofs- und im Priesteramt, Botschafter, liebe Freunde! Über das Geheimnis des göttlichen und des menschlichen Antlitzes nachzudenken, ist ein privilegierter Weg zum Frieden.
Dieser beginnt ja in der Tat mit einem respektvollen Blick, der im Gesicht des Anderen eine Person erkennt: gleich wie auch immer seine Hautfarbe, Nationalität, Sprache, und seine Religion sein möge. Wer aber, wenn nicht Gott, kann, sozusagen für die "Tiefe" des menschlichen Antlitzes einstehen?
In Wirklichkeit sind wir nur dann, wenn wir Gott im Herzen haben, dazu fähig, im Gesicht des anderen einen Bruder als Mitmenschen zu erkennen, kein Mittel zum Zweck, sondern ein Ziel in sich, keinen Rivalen und keinen Feind, sondern ein anderes Ich, eine Facette des unendlichen Geheimnisses des menschlichen Wesens.
Unsere Wahrnehmung der Welt und besonders unserer Mitmenschen hängt wesentlich ab von der Anwesenheit des Geistes Gottes in uns. Es ist eine Art „Echo": Wer ein leeres Herz hat, nimmt nur flache Bilder ohne Tiefe wahr. Je mehr wir dagegen von Gott bewohnt sind, umso empfänglicher sind wir auch für seine Gegenwart in allem, was uns umgibt: in allen Geschöpfen, besonders in anderen Menschen.
Dennoch ist es manchmal schwer, gerade das menschliche Gesicht, wenn es von der Härte des Lebens und des Bösen gezeichnet ist, als Offenbarung Gottes wertzuschätzen und wahrzunehmen.
Wenn wir einander anerkennen und respektieren wollen als das, was wir sind, nämlich als Geschwister, müssen wir uns auf das Antlitz eines gemeinsamen Vaters berufen, der uns alle liebt, trotz unserer Grenzen und unserer Fehler.
Von klein auf ist es wichtig, zum Respekt vor dem Nächsten erzogen zu werden, auch wenn er anders ist als wir. Immer alltäglicher wird heute die Erfahrung von Schulklassen, die aus Kindern verschiedener Nationalitäten bestehen.
Aber selbst wenn das nicht der Fall ist, sind die Gesichter dieser Kinder wie eine Weissagung für die Menschheit, die zu bilden wir berufen sind: eine Familie aus Familien und aus Völkern.
Je kleiner diese Kinder sind, umso mehr lösen sie in uns die Zärtlichkeit und die Freude über eine Unschuld und eine Geschwisterlichkeit aus, die uns recht offensichtlich erscheinen: Trotz ihrer Unterschiedlichkeit weinen und lachen sie auf dieselbe Art, haben dieselben Bedürfnisse, kommunizieren spontan, spielen miteinander... die Gesichter der Kinder sind wie ein Abglanz der Sicht Gottes auf die Welt. Warum also ihr Lächeln auslöschen?
Warum ihre Herzen vergiften? Leider findet die Ikone der Muttergottes der Zärtlichkeit ihr tragisches Gegenstück in den schmerzvollen Bildern vieler Kinder und ihrer Mütter, die Krieg und Gewalt ausgesetzt sind: Flüchtlinge, Vertriebene, Migranten. Gesichter, die gezeichnet sind vom Hunger und von Krankheiten, entstellt von Schmerz und Verzweiflung. Die Gesichter der unschuldigen Kinder sind ein stiller Appell an unsere Verantwortung: Gegenüber ihrer Wehrlosigkeit fallen alle falschen Rechtfertigungen des Kriegs und der Gewalt in sich zusammen. Wir müssen uns einfach bekehren zu Projekten des Friedens, müssen Waffen jeder Art niederlegen und uns alle zusammen einsetzen für eine Welt, die des Menschen würdiger ist.
Meine Botschaft zum heutigen 43. Weltfriedenstag: "Willst du den Frieden fördern, so bewahre die Schöpfung" stellt sich mitten in die Perspektive des Antlitzes Gottes und der Gesichter der Menschen. Wir können in der Tat bestätigen, dass der Mensch dazu in der Lage ist, die Kreaturen zu achten, in dem Maß, wie er in seinem Geist einen vollen Lebenssinn trägt. Andernfalls wird er dazu neigen, sich selbst und seine Umgebung gering erzogen zu werden zu schätzen und keinen Respekt für die Umwelt und die Schöpfung zu haben. Wer im Kosmos den Abglanz des unsichtbaren Antlitzes des Schöpfers zu erkennen vermag, neigt dazu, mehr Liebe für die Kreaturen zu empfinden, mehr Sensibilität für ihren symbolischen Wert. Besonders das Buch der Psalmen ist reich an Zeugnissen dieser wirklich menschlichen Art, sich zur Natur in Beziehung zu setzen: Mit dem Himmel, dem Meer, den Bergen, den Hügeln, Flüssen, Tiefen... "Herr, wie zahlreich sind deine Werke!", ruft der Psalmist aus. "Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, die Erde ist voll von deinen Geschöpfen." (Ps 104,24).
Besonders die Perspektive des "Antlitzes" lädt dazu ein, über das, was ich, auch in dieser Botschaft, "menschliche Ökologie" genannt habe, nachzudenken. Tatsächlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Respekt vor Menschen und dem Schutz der Schöpfung. "Die Pflichten gegenüber der Umwelt leiten sich aus jenen gegenüber der Person her, die in sich selbst in Beziehung zu den anderen steht" (ebd, 12). Wenn der Mensch sich erniedrigt, erniedrigt sich die Umwelt, in der er lebt; wenn die Kultur einem Nihilismus zuneigt, kann die Natur nicht anders als die Konsequenzen tragen. Es ist ein gegenseitiger Einfluss erkennbar zwischen dem Antlitz des Menschen und dem "Antlitz" der Umwelt: "Wenn die menschliche Ökologie in der Gesellschaft respektiert wird, zieht auch die Ökologie der Umwelt Nutzen daraus" (ebd.; vgl. Enz. Caritas in veritate, 51). Ich erneuere deshalb meinen Appell, in die Erziehung zu investieren und, über die notwendige Übermittlung technisch-wissenschaftlicher Begriffe hinaus, auf ein erweitertes und vertieftes "ökologisches Verantwortungsbewusstsein" abzuzielen, das sich gründet auf dem Respekt des Menschen und seiner grundlegenden Rechte und Pflichten. Nur so kann der Einsatz für die Umwelt wirklich eine Erziehung zum Frieden und ein Aufbau des Friedens werden.
Liebe Brüder und Schwestern, in die Weihnachtszeit fällt ein Psalm, der unter anderem ein großartiges Beispiel darüber enthält, wie das Kommen Gottes die Schöpfung verwandelt und eine Art kosmisches Fest auslöst. Dieser Hymnus beginnt mit einer universellen Einladung zum Gotteslob: "Singt dem Herrn ein neues Lied, singt dem Herrn, alle Länder der Erde! Singt dem Herrn und preist seinen Namen" (Ps 96,1-2). An einer bestimmten Stelle dann erweitert sich dieser Aufruf zum Jubel auf die gesamte Schöpfung: "Der Himmel freue sich, die Erde frohlocke, es brause das Meer und alles, was es erfüllt. Es jauchze die Flur und was auf ihr wächst. Jubeln sollen alle Bäume des Waldes (Ps 96,11-12). Das Fest des Glaubens wird ein Fest des Menschen und der Schöpfung: Jenes Fest, das man zu Weihnachten auch mit dem Schmücken der Bäume, der Straßen, der Häuser zum Ausdruck bringt. Die Jungfrau Maria zeigt das Jesuskind den Hirten von Bethlehem, die Gott rühmen und preisen (vgl. Lk 2,20); die Kirche erneuert das Geheimnis für die Menschen jeder Generation und zeigt ihnen das Antlitz Gottes, damit sie, mit seinem Segen, auf dem Weg des Friedens voranschreiten können.

[ZENIT-Übersetzung des italienischen Originals; © Copyright 2010 – Libreria Editrice Vaticana]

Drucken